Die Gewerbeausstellung 1896
Berlin erlebt 1896 einen ziemlich verregneten Frühling, doch am 1. Mai scheint die Sonne. Es herrscht „Kaiserwetter“, wie die Berliner sagen. Die Zufahrtsstraßen zum Treptower Park sind von Flaggenmasten und Obelisken gesäumt, und von Dächern und Balkonen wehen die Fahnen vieler Nationen. Zehntausende haben sich zur Eröffnung der größten Wirtschaftsausstellung in der Geschichte Berlins aufgemacht und drängen sich nun vor dem wuchtigen Eingangsportal. Kaiser Wilhelm II. hat für die Anreise den Wasserweg gewählt. Seine Yacht ankert an der eigens für ihn eingerichteten Landungsbrücke an der Oberspree. „Berlin hat einen einzigen Gedanken und eine einzige Wallfahrt: Treptow“, wird der Feuilletonist Alfred Kerr später schreiben. In der Tat: Die Gewerbeausstellung lockte bis zum 15. Oktober 1896 7,4 Millionen Besucher aus dem In- und Ausland an. Berlin war erstmalig eine wirkliche Weltstadt.
Berlin boomte – doch die große Mehrheit der Bevölkerung spürte vom Aufschwung wenig. Die Löhne waren niedrig, das Wohnungselend groß und der Arbeitsalltag hart – nicht nur in den Kolonien wurden Menschen ausgebeutet. In der Politik und der Presse fanden die miserablen Lebensbedingungen der Arbeiterschaft und der Landbevölkerung wenig Beachtung. Demokratische und sozialstaatliche Strukturen waren in der deutschen Monarchie nur in Ansätzen erkennbar. Dennoch, die meisten Menschen jubelten ihrem Kaiser zu. Sein Streben nach imperialer Größe und die Erfolge bei der Modernisierung und Industrialisierung Deutschlands förderten bei seinen Untertanen das Gefühl nationaler Überlegenheit – ein günstiger Nährboden für die Pläne der Protagonisten einer expansiven Kolonialpolitik.
Rund viertausend Unternehmen und Institutionen zeigten in den Ausstellungspavillons und -hallen einen Querschnitt ihrer Leistungen. Vertreten waren fast alle Branchen aus Handel, Handwerk und Industrie sowie diverse Forschungs- und Ausbildungseinrichtungen. Auch für die Unterhaltung und das Vergnügen der Besucher wurde gesorgt: Besondere Attraktionen waren der Nachbau von zwei historischen Stadtvierteln („Alt-Berlin“ und „Kairo“), eine 30 Meter hohe Nachbildung einer ägyptischen Pyramide, Reiter- und Marineschauspiele, ein Alpenpanorama und ein Turm mit einer Wasserrutschbahn.
Parallel zur Gewerbeausstellung fand in Treptow die „1. Deutsche Kolonialausstellung“ der Kolonialabteilung des Auswärtigen Amts statt. Diese Propagandaschau sollte mit dem Nachbau afrikanischer und südpazifischer Dörfer und über hundert „Eingeborenen“ die Bevölkerung vom vermeintlichen Segen der Kolonialisierung überzeugen.
Dass die Gewerbeausstellung nicht, wie ursprünglich von der Berliner Wirtschaft geplant, den Rang einer Weltausstellung einnehmen durfte, lag in erster Linie an Eifersüchteleien einiger deutscher Bundesstaaten und am Einspruch von Kaiser Wilhelm II., der sich mit dem kosmopolitischen Charakter und den hohen Kosten einer internationalen Leistungsschau wohl nicht anfreunden konnte. („Weltausstellung is nich, meine Herren.“) Die Berliner Unternehmer ließen sich von ihrer Vision einer Weltausstellung nicht gänzlich abbringen – und tauften das Projekt kurzerhand in Gewerbeausstellung um. An den ursprünglich beabsichtigten Dimensionen änderte sich wenig; mit einer Fläche von insgesamt 1,1 Millionen Quadratmetern überboten die Berliner fast alle bisherigen Weltausstellungen.
Die Organisatoren der Gewerbeausstellung mussten sich verpflichten, sämtliche Gebäude und sonstigen Einrichtungen nach Ausstellungsende wieder abzubauen. Da es sich dabei größtenteils um im Massivbau errichtete Hallen, Pavillons, Restaurants und Aussichtstürme handelte, war hierfür der zeitliche und finanzielle Aufwand entsprechend hoch. Auch der künstlich angelegte See zwischen dem Hauptausstellungsgebäude und dem Hauptrestaurant mit seinem 70 Meter hohen Wasser- und Aussichtsturm wurde zugeschüttet. (Heute befindet sich hier die Freifläche des sowjetischen Ehrenmals.)
Die Vorbereitungen für die Gewerbeausstellung führten in Berlin zu gravierenden infrastrukturellen Verbesserungen: Ab 1896 verkehrten elektrifizierte Bahnlinien im 2,5-Minuten-Takt von der Innenstadt nach Treptow, um den erwarteten Besucherandrang bewältigen zu können. Die Gewerbeausstellung gab damit den letzten Anstoß zur Umstellung der Berliner Straßenbahnen von Pferdekraft auf Stromantrieb und zum Ausbau der Stadtbahn.
Die Gewerbeausstellung wurde angesichts ihrer Dimensionen zu Recht als „verhinderte Weltausstellung“ bezeichnet. Auch die Besucher aus New York, London und Paris beindruckten die spektakulären technischen Exponate, die Illuminierung des gesamten Geländes durch das noch neue elektrische Licht, die 3,4 km lange Parkbahn oder die Aufstiege eines Fesselballons und des ersten motorgetriebenen Luftschiffs.
Die visionäre Gestaltungskraft der Ausstellungsmacher um den Vorsitzenden des Vereins Berliner Kaufleute und Industrieller (VBKI), Ludwig Max Goldberger, nötigte auch den Skeptikern Respekt ab. Die Realisierung der Gewerbeausstellung dauerte inklusive der infrastrukturellen Projekte in Treptow (Bahnanschlüsse und Bahnhöfe, Straßen, Schiffsanlegestellen, Brücken, Ver- und Entsorgungsleitungen) nur unglaubliche zwei Jahre.
Erst mehr als hundert Jahre nach der Berliner Gewerbeausstellung ist in Deutschland mit der Expo 2000 in Hannover eine in Größe und Vielfalt ähnlich gigantische Leistungsschau veranstaltet worden.
Parallel zur Gewerbeausstellung ertönten Trommeln über Treptow.